14.000 Gewerkschafter fordern Kurswechsel in Berlin
Mehr als 14.000 Menschen haben an der heutigen Protestkundgebung der nordrhein-westfälischen DGB-Gewerkschaften gegen die Berliner Sparpolitik teilgenommen. In der Dortmunder Westfalenhalle warf Verdi-Vorsitzender Frank Bsirske Bundeskanzlerin Merkel vor, nach dem Motto "oben entlasten - unten belasten" zu regieren.
Das Hallenrund ist voll besetzt, bis in die obersten Ränge. Links und rechts der Bühne prangt das Motto der Veranstaltung, in weißer Schrift auf roten Tafeln: "Gemeinsam für ein gutes Leben" - Gerecht geht anders. Für einen Kurswechsel in Berlin". Auf der Leinwand dazwischen spiegelt sich - stark vergrößert - das Geschehen auf der Bühne wider, es wird von Fernsehkameras übertragen. So verpassen auch die Leute in der hintersten Reihe nichts.
Die Beleuchter haben die Halle in rot-blaues Licht getaucht.
Durch die Menschenmenge in der Hallenmitte schlängelt sich eine 82-köpfige "Raupe": Gewerkschafter aus Hagen unter einer langen Stoffbahn, auf der beispielsweise steht "Wir lassen uns nicht fressen". Ein paar Dutzend Fahrradfahrer - noch tropfnass vom Regen - rollen in die Halle; sie kommen aus Hamm und Lippstadt und sind schon seit gestern unterwegs.
Als Römer verkleidet treten drei Gewerkschafter mit den Masken von Merkel, Westerwelle und Seehofer auf die Bühne; und ein Gallier mit gehörntem Helm ruft ins Mikro: "Ganz Deutschland ist besetzt vom neoliberalen Zeitgeist. Ganz Deutschland? Nein! Unbeugsame Gewerkschaften hören nicht auf, Widerstand gegen das Sparpaket zu leisten." Dann vertreiben die Gallier die Römer von der Bildfläche.
Nebelschwaden wabern über die Bühne. Blitzlichtgewitter. "Just Pink" rockt die Halle. Die drei Tänzerinnen der achtköpfigen Coverband mit Leadsängerin Vanessa Henning an der Spitze legen eine sexy Show hin. Ein ungewöhnlicher Auftritt für eine gewerkschaftliche Protestkundgebung.
Jetzt wird es dunkel im Saal. Vier Glockenschläge ertönen. Und aus dem großen, schwarz-rot-goldenen "Sparpaket" auf der Bühne - je sechs Meter breit und lang und 3,50 Meter hoch - sind Stimmen zu hören: "Das Sparpaket ist aber riesig! Wie können wir es verhindern?" - "Ich hätte da eine Idee!" Der Countdown läuft: "Zehn. Neun..." Bei "Null" knallt's - und 30 Jugendliche, die sich im Innern des Sparpakets versteckt haben, sprengen es: Die 240 Einzelpakete fliegen auseinander, ein bunter Konfettiregen regnet auf die Truppe herab - Riesenapplaus.
"Es ist höchste Zeit, dass es mal knallt in dieser Republik", ruft Andreas Meyer-Lauber, der neue DGB-Vorsitzende von Nordrhein-Westfalen. Er fordert einen gesetzlichen Mindestlohn - "her damit und basta". Und kassiert den größten Applaus für den Satz: "Die Rente mit 67 muss weg!" Währenddessen wird von den obersten Rängen eine 15 mal 10 Meter große schwarz-gelbe Blockfahne entrollt: "An der Jugend sparen heißt, dass man auf die Zukunft scheißt!" "Wenn wir zusammenhalten", ruft Meyer-Lauber, "können wir Politik bewegen."
Sieben Mitglieder der DGB-Gewerkschaften streifen in kurzen Wortbeiträgen alle strittigen Themen der Politik: von der Verschuldung der Kommunen über die Privatisierung der Bildung bis zu Hartz IV. Stahl-Betriebsrat Jens Mütze kritisiert die Zweiklassengesellschaft im Betrieb, die Trennung der Belegschaften in Stammbeschäftigte und Leiharbeiter. "Es muss der Grundsatz gelten 'gleiche Arbeit - gleiches Geld", sagt er. Und DGB-NRW-Vize Sabine Graf attackiert die Gesundheitspolitik. Dank Kopfpauschale "werden wir mehr bezahlen müssen - nur wir, die Arbeitgeber sind fein raus", ruft sie. Das sei nicht hinnehmbar, Graf will "die Luft anzünden zu diesem Thema".
Verdi-Chef Frank Bsirske erinnert an das Wort vom Raubtierkapitalismus, das einst Altkanzler Helmut Schmidt geprägt hat - und stellt fest: "Die Raubtiere laufen alle noch frei rum." Um die Profitgier der Finanzmärkte zu zügeln, sei "viel zu wenig passiert", sagt er. Banken und Spekulanten dürften nicht so weitermachen wie vor der Krise. "Das Kasino muss geschlossen werden!" Bsirkse redet sich in Rage. Dass der Chef der Pleite-Bank Hypo Real Estate, die Milliarden Euro an Steuergeldern verschlungen hat, mit einem fünfstelligen Pensionsanspruch in Rente gehe, sei "so" - und streckt beide Mittelfinger in die Luft. Es sei nicht gottgegeben, ruft Bsirske, dass Deutschland eine Steueroase für Vermögende und der Aktienhandel steuerfrei sei. Das sei das Produkt politischer Entscheidungen, "und die kann man ändern".
Michael Vassiliadis, Vorsitzender der IG BCE, fasst sich etwas kürzer. Jetzt, nach der Krise, müsse "soziale Gerechtigkeit das entscheidende Thema sein", sagt er. Und fordert "unseren Anteil am Aufschwung". Die Regierung, so Vassiliadis, solle sich aus der Tarifpolitik heraushalten, stattdessen "den sozialen Reformstau auflösen". Denn "nur die Reichen können sich einen armen Staat leisten".